Gespräch mit Sonja Lokar

Wir führen zu Beginn unserer Reise ein Interview mit Sonja Lokar, ehemalige stellvertretende Generalsekretärin der Kommunistischen Partei in Ex-Jugoslawien. Gleichzeitig arbeiten wir nach anfänglicher Orientierung mehr und mehr den roten Faden heraus, der uns auf der Reise begleiten soll.
Unsere Arbeit soll unter der Leitfrage stehen, wie die Organisation von Solidarität aussehen kann.
Um den Arbeitsinhalt zu präzisieren, bieten wir eine Übersicht über das allgemeine Verständnis von Solidarität.

Nach dem Philosophen Andreas Wildt handle es sich um eine „Vorstellung einer politisch- sozialen Brüderlichkeit“ geprägt durch die Industrialisierung und die bürgerliche Gesellschaft der Moderne.
Sie sei gleichzeitig eine Zielvorstellung politischen und gesellschaftlichen Handelns sowie die Benennung und das Hervorrufen der Kräfte, die „an der Herstellung gesellschaftlich wünschenswerter Verhältnisse mitwirken sollen“.
Im engeren Sinne sei es eine „Bereitschaft, in einen gemeinschaftlichen Kampf gegen Unrecht, Unterdrückung und Ausbeutung einzutreten oder ihn aus der Perspektive derer zu unterstützen, die diesen Bedrückungen unterliegen“.1
Nach unserer Definition handelt es sich bei Solidarität um einen Prozess, in dem wir uns als Teil einer Gruppe, Bewegung oder jeglicher zwischenmenschlicher Interaktion begreifen, und im Zuge diesen Prozesses die eigenen Kapazitäten und Stärken in diese Gruppe/ Bewegung/Interaktion zum Wohle der eigenen Person, dem der anderen und ihrer Ziele und Wünsche einbringen, sodass sich die Beziehung zum Vorteil aller (Personen, Ziele, Wünsche) gestaltet.
Dem Einbringen eigener Stärken liegt für uns das Erkennen und aktive Umsetzen der eigenen Person zugrunde.
Allerdings ist uns bewusst, dass sich Solidarität in größeren Dimensionen, wie zum Beispiel zwischen einzelnen Teilrepubliken, anders gestaltet, auch da die Grundlage der persönlichen Ebene und des persönlichen zwischenmenschlichen Austausches fehlt.
Wie kann Solidarität nicht nur eine politische Einstellung sein, sondern in Strukturen verankert werden, die diese Einstellung immer wieder stützen und erneuern?
In dem nun folgenden Text beschäftigen wir uns mit dem Inhalt und den Fragen des Gesprächs mit Sonja Lokar, analysieren und interpretieren ihre Aussagen und vergleichen diese mit dem gleichzeitigen Gruppenprozess und unseren Gedanken, die uns begleiten. Der Text stellt keinen Anspruch auf Wahrheit, er ist kein politikwissenschaftlicher Text, vielmehr soll er einen Gedankenprozess darlegen, den vielleicht auch andere junge Aktivist*innen teilen. Wir empfangen Sonja im Rog und in entspannter Atmosphäre entwickelt sich ein interessantes, aufschlussreiches Gespräch.

Was zeichnet solidarische Strukturen aus und was erhält diese am Leben? 

Sie lehnt sich zurück und denkt einen Moment über die Frage nach, wie solidarische Strukturen ausgebaut und am Leben erhalten werden können. Der erste Lernprozess, der Solidarität zugrunde liegen muss, ist das Erlernen eines Zusammenlebens mit allen Diversitäten, so Sonja.

Solidarität sei kein moralisches Maß, sondern eine Notwendigkeit. Es sei die einzige Art zu überleben, aber das sei von vielen Menschen noch nicht begriffen worden, unter anderem auch nicht von der Politik. Dieses Missverständnis führe zwangsläufig zu einem Krieg. Leider würde diese Notwendigkeit den meisten Menschen nur nach einem solchen großen Krieg bewusst werden, da erst in einer solchen Situation die Menschen erkennen würden, dass sie aufeinander angewiesen sind und daraufhin solidarisch seien.

Wie kann man einen sozialistischen Staat aufbauen und am Leben erhalten? 

Auf unserer Frage, wie man einen sozialistischen Staat aufbauen und am Leben erhalten könne, geht Sonja auf die Rolle der Kirche und den Stellenwert der Säkularisierung ein. Ihrer Meinung nach müsse die Kirche aus dem öffentlichen Leben verschwinden, mit dem Ziel, die Konflikte zwischen religiösen Differenzen in Kombination mit den ethnischen Unterschieden zu entschärfen.

Menschen müssten verstehen, dass kulturelle und nationale Disparitäten zum Zusammenleben überwunden werden müssen.
In Hinblick auf die Organisation des Staates erzählt Sonja uns vom sozialistischen Jugoslawien. Hier habe es ein Gefälle zwischen Nord und Süd gegeben, viele finanzielle Mittel aus Slovenien wurden in Serbien, Bosnien und im Kosovo zum Aufbau der Infrastruktur und Fabriken verwendet. Solche finanziellen Gefälle habe es auch innerhalb der Teilrepubliken gegeben, zum Beispiel innerhalb Sloweniens zwischen dem reichen Maribor und den ärmeren Provinzen, die Geld brauchten, um sich weiterentwickeln zu können.
Tiefergreifende Probleme hätten begonnen, als Wohlstand und Güter immer knapper wurden und die Preise stiegen. Serbien und Kroatien, die wohlhabenden Teile Jugoslawiens, hätten ihre finanziellen Mittel für sich behalten wollen und die restlichen Teilstaaten als „faul“ und „passiv“ betrachtet. Das Gefälle zwischen reicheren und ärmeren Regionen sei immer größer geworden, wobei der ärmere den weitaus größeren Teil ausgemacht habe.
Sonja vergleicht diese Situation im ehemaligen Jugoslawien mit der aktuellen in der Europäischen Union, wo einige wenige Staaten wie Deutschland finanziell weitaus mächtiger seien als andere. Ihr zufolge besteht die EU nach wie vor, da in der EU im Vergleich zum ehemaligen Jugoslawien mehr Menschen in Wohlstand lebten.
Da bestimmte wirtschaftliche Prozesse der Teilstaaten verschiedene Auswirkungen gehabt hätten und ihr Wohlstand von ihnen abhängig gewesen sei, sei eine einheitliche Überwachung der Wirtschaft erschwert gewesen.

Welche Rolle spielte das Ein-Parteien-System im sozialistischen Staat? 

Als zweiten Grund des Scheiterns von Jugoslawien betrachtet Sonja das Ein-Parteien- System.
Als langjähriges Mitglied der Partei, das in der zentralen Rolle Entwicklungen beobachten und bewerten konnte, sieht Sonja, dass die verschiedenen Strömungen und Meinungsentwürfe zwar weiterhin existiert haben, allerdings innerhalb der Partei ausgetragen wurden. Sie habe den Raum für Demokratie und einen Parteienföderalismus zum Austragen von transparenten öffentlichen Debatten und zur politischen Meinungsbildung vermisst.

„Wenn es keine inneren Herausforderungen und innere Debatten gibt, lebt man auf dem Mond!“
Die kommunistische Partei sei nicht demokratisch gewesen, die Führer hätten die Parteilinie formuliert, die anderen mussten dieser folgen. Die größte Gruppe der Dissidenten im Gefängnis seien die Kommunisten selbst gewesen.

Sonja erzählt uns vom Ursprung und von der Entwicklung der kommunistischen Partei, wie sich die Partisan*innen als illegale Partei zwischen den großen Kriegen formierten und sich in sehr kleinen Einheiten gegen die Repression der Polizei organisierten.
Wie beim Einbruch des Krieges die Partei mit jeder anderen oppositionellen Bewegung und Gruppe kollaborierte, eben sogar mit den Alliierten.

Wie die Bewegung kein politisches Ziel außer dem Verhindern der Okkupation hatte und somit der Kommunismus zur angebotenen Lösung für alle wurde.
Dem sozialistischen Prinzip zufolge sollten die Arbeiter*innen die Entscheidungsmacht darüber haben, wer ihr*e Vertreter*in werden soll. Faktisch jedoch stellte die Partei drei Kandidat*innen vor, zwischen welchen die Arbeiter*innen schließlich wählen konnten.
Es gab, so Sonja, immer den Konflikt zwischen Gewerkschaften, die für mehr Rechte der Arbeiter*innen kämpften, und der Partei, welche sich für die Machtetablierung des Staates einsetzte. Entscheidungen wurden stets in der Parteispitze getroffen und oppositionelle Stimmen wurden zu Beginn in Gefängnissen zum Schweigen gebracht, später aus der Partei ausgeschlossen und in der weiteren Entwicklung an die Universität verlagert, um dort zu lehren.
Im Endeffekt war die Absicht stets, Andersdenkende aus der Partei und dem System auszuschließen. Demokratische Entscheidungsfindung gab es laut Sonja demnach nicht. Auf lokaler Ebene jedoch gestaltete sich das politische Leben anders, demokratischer und mehr im Sinne des Sozialismus. Arbeiter*innen hatten mehr Entscheidungsmacht und größeren politischen Einfluss.

Ein weiterer Aspekt, den Sonja in Hinblick auf die sozialistischen Strukturen im ehemaligen Jugoslawien formuliert, sind Streiks.
Sie zeichnet ihr Paradoxon innerhalb eines Arbeiterstaates auf, indem es ohne Besitzer der Arbeitskraft keinen Streik im ursprünglichen Sinne geben könne.

Die Streiks hätten sich gegen die Verwalter*innen und Steuern gerichtet. Nach Sonja sei jeder Streik in einem Sieg geendet, da der Staat durch ihre sozialistische Identifikation und Definition dazu gezwungen wurde, sich nach Arbeitern und ihren Wünschen zu richten.

Wie sah die Rolle der Frau im Sozialismus aus? 

Wir fragen Sonja nach der Rolle der Frau. Sie, die zahlreiche Frauenrechtsprojekte initiiert und in ihnen mitgewirkt hat, erzählt uns von ihren Erfahrungen und Recherchen.
Parallel zum Parteiprogramm, das eine Gleichberechtigung und egalitäre Bezahlung zwischen Mann und Frau formulierte, habe es Benachteiligungen gegeben.

Diese hätten sich nicht intergeschlechtlich in einem Beruf gezeigt, sondern vielmehr im Vergleich von geschlechtsspezifischen Zuteilungen von Berufen: So hätten als weiblich kategorisierte Berufe im Schnitt deutlich weniger verdient als ihre männlichen Pendants. Gleichzeitig seien die weiblich kategorisierten Berufe oft hierarchisch unterlegen gewesen, Führungspositionen seien durchschnittlich öfter von Männern belegt gewesen.

Positiv hervorzuheben sei allerdings, dass Frauen Vollzeit arbeiten konnten und sich somit ein Stück weit von standardisierten gesellschaftlichen Rollenbildern emanzipieren konnten. Des Weiteren seien Scheidungen von ihrem Anspruch auf Rechtfertigung und Begründung gelöst worden und Heirat im allgemeinen sei säkularisiert worden, sodass rein zivile Heiraten möglich waren.

Im Vergleich zur heutigen Situation sei das ältere System fortschrittlicher gewesen, schließt sie ohne weitere Ausführungen ab.

Wo liegen die Gefahren des Sozialismus? 

Das System, welches eigentlich darauf ausgelegt sei, Arbeiter*innen in ihren Rechten zu schützen, sei an an einigen Stellen ins Gegenteil umgeschlagen. So sei selbstständigen Kleinunternehmern wie Schuster*innen oder Frisör*innen nach Etablierung des Sozialismus ihr Eigentum entzogen worden, was diesen ihre Lebensgrundlage geraubt habe.

Eine weitere Gefahr sei die intergenerationelle Weitergabe von politischen Kenntnissen und Fähigkeiten. Nach Sonja sei dies zwischen der ersten und zweiten Generation nach Etablierung des Sozialismus in Jugoslawien gescheitert. Die ältere Generation habe die folgende daran gehindert, in Positionen hineinzuwachsen und so mit dem System zu wachsen und dieses entsprechend zu verändern. Nach dem Tod der älteren Generation sei der junge Geist der Folgenden zerstört gewesen und dies sei ein entscheidender Grund für den Ausbruch des Krieges gewesen.

Korruption könne als weiteres Risiko in einem System angesehen werden. In Slovenien jedoch sei das Level von Korruption äußerst gering gewesen, da das Interesse der Parteivorsitzenden eher auf Macht als auf Geld konzentriert gewesen sei.

Was führt zum Erstarken von nationalistischem Gedankengut? 

Da Jugoslawien als Vielvölkerstaat mit zahlreichen historischen Grenzverschiebungen und national-liberalen Bewegungen Erfahrung gesammelt hatte, wenden wir uns wieder an

Sonja, um zu verstehen, wie Nationalismus sich entwickelt und ein solidarisches Zusammenleben verhindert.
Zahlreichen nationalen und faschistischen Bestrebungen und Konflikten, wie der Rolle der Serben im Ersten Jugoslawien als mächtige Nationalität und den darauffolgenden Gräueltaten des Ustascha-Regimes gegen die Serben im Unabhängigen Staat Kroatien durch Kroaten und Muslime, wurde durch die Partisan*innenbewegung entgegengewirkt. Diese Bewegung führte nicht nur einen außenpolitischen Kampf gegen die faschistischen Achsenmächte, sondern auch einen innenpolitischen Kampf gegen die nationalistische Interpretation der ethnischen Vielfalt neben der Bekämpfung des faschistischen Diktatur. Sonja geht auf die Rolle Titos ein, der die Nationen durch Werte wie Brüderlichkeit zu einer Einheit und nationaler Gleichheit formte und im konstitutionellen Verlauf durch Dezentralisation ein Gleichgewicht zwischen nationaler Identität und Liberalität als auch sozialistischer Gemeinschaft hergestellt habe.

Diese Entwicklung der Konstitution spiegele sich anhand der Dezentralisierung der Staatsgewalten wider, die die nationale Bewegungen wie in den 1970ern durch Stärkung Souveränität der einzelnen Staatsorgane auf lokaler Ebene mildern sollte. Föderalismus habe den Teilrepubliken das notwendige Maß an Selbstbestimmung gegeben, sodass keine Unabhängigkeit fordernde Nationalbewegung entstand.
Dieser ideologische Ansatz sei allerdings gescheitert, wie man an der nationalistischen Bewegung der späten Achtzigern sehe.

Sonja spricht mit entschiedenen und leidenschaftlichen Worten, als sie beschriebt, kein einziger der nationalistischen Führer der Kroaten oder Serben der späteren Zeit des Zweiten Jugoslawiens seien wirklich Nationalisten. Vielmehr hätten sie nationalistische Gedanken missbraucht, um die Bevölkerung gegeneinander zu hetzen und dadurch an Macht zu gewinnen.

Dadurch begründet sie die nationalistische Bewegung durch die Machtgier von Politiker*innen und Einzelpersonen.
Von dieser Interpretation des Nationalismus können wir, losgelöst vom späten Jugoslawien, für uns lernen. Die Instrumentalisierung der Bevölkerung, die auf hetzerischem Gedankengut auf Grundlage von geschaffenen Identitäten beruht und in Krisensituationen Zuspruch findet, ist ein Phänomen, das uns in jeglichen Gesellschaftskonstellationen und politisch-historischen Verläufen begegnet. Die Tragweite dieses Prinzips, diese Art der Propaganda als Problem zu begreifen und als Gefahr in jeder Gesellschaftsform zu erkennen, erscheint wichtig für unsere allgemeine Fragestellung nach der Organisation solidarischer Prinzipien und hiermit auch ihrer möglichen Gegner.

Sonja erzählt uns weiterhin vom Verlauf der jugoslawischen Geschichte, die sich nach Titos Tod und mit Fortschreiten der Zeit immer mehr ebendiesen Problematiken des Nationalismus unterordnete.
Die Menschen hätten aufeinander geschossen, nachdem der ihrer Meinung nach progressive Tito verstarb und neue Politiker keine Lösungen auf gemeinschaftlicher Ebene, sondern vielmehr auf nationaler Ebene fanden.

Ein Beispiel hierfür sei, dass man bei (den damaligen Teilrepubliken) Slowenien und Kroatien einen EU-Beitritt vorhersah, während „Serbien 20 Jahre warten müsse“. Besonders Milosovics Rolle durch seine EU- und Weltbanken-orientiere Politik bewertet sie als eine, die Jugoslawien zentralisierte und durch bestrebte Öffnungen des Marktes neoliberalisierte.

Nationalistische Propaganda durch Nachrichten und andere Medien sei unter Milosovic erstarkt, die Stimmung der Bevölkerung habe sich unter der Hetze gegen Slowenien, Kroatien und dem Kosovo verändert.
Aktiv habe man Leuten mit den Worten „hiermit könnt ihr euch gegen die Kroaten schützen, die euch umbringen wollen“ Waffen in die Hand gedrückt. Serben hätten selbst vor den Kriegen der 90er Serben getötet unter dem Vorwand, Angst und Schuld in der Bevölkerung zu erzeugen.

Diese Mittel hätten Nachbarn dazu gebracht, Nachbarn zu töten und somit Gemeinschaft, religiöse Toleranz und freundschaftliche Beziehungen der letzten Jahrzehnte aufzulösen. „Die Angst holt den Teufel aus den Leuten“, sagt Sonja.
Der Dezentralismus habe zuvor die Gesellschaft gestärkt, Probleme eigenständig zu lösen, nicht, wie oft dargestellt sei, den Nationalismus erstarken zu lassen.

Wie kann man solidarische Strukturen aufbauen, ohne autoritär zu sein? 

Unter anthropologischem Gesichtspunkt stellt sich die Frage, ob der Mensch auch in Situationen, in welchen seine eigenen Grundbedürfnisse und sein eigener Wohlstand nicht gesichert sind, in der Lage ist bzw. dazu neigt, solidarisch zu denken und zu handeln. Auch wenn diese Fragestellung zu weitreichend ist, um sie bis ins Letzte hier und jetzt zu erörtern, kristallisieren sich folgende Aspekte heraus, die für oben formulierte Frage relevant zu sein scheinen.

Ein entscheidender Faktor, der für die Etablierung von solidarischen Strukturen von Nöten zu sein scheint, ist ein gewisses Level an Wohlstand für alle.
Bildung mit besonderen Augenmerk auf Erziehung zum selbstständigen Denken und zur Reflexion erscheint uns ebenso ein Punkt zu sein, der für das Aufbauen solidarischer Strukturen wichtig ist. Aus Geschichte zu lernen und die Fähigkeit innezuhaben, die Rolle des Menschen innerhalb der Gesellschaft zu reflektieren, stellen wichtige Teilaspekte dar. Des Weiteren lassen sich die Bedeutung demokratischer Strukturen und die Organisation im Kleinen in einer Gesellschaft anführen. Basisdemokratische Selbstverwaltung, die damit verbundene gestärkte Eigenverantwortung ebenso wie geförderte zwischenmenschliche Begegnung sollten zur Etablierung solidarischer Strukturen beitragen.

Sonja berichtet von Erfahrungen aus der ehemaligen Jugendorganisation, in der sie Mitglied war. Gemeinsam bauten sie an einen Damm in Zagreb, einerseits als Beitrag zur Infrastruktur, andererseits jedoch ebenso mit dem Ziel, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen, der etwas Gutes zur Gesellschaft beiträgt, indem Solidarität gelebt wird. Das zugrundeliegende Prinzip, Politik und Gesellschaft in gemeinsamen Aktionen zu erleben und zu erlernen, sei in Jugoslawien der frühen Jahre verbreitet gewesen, berichtet Sonja. Dennoch sei es die Minderheit der Gesellschaft gewesen, die dieses Prinzip angetrieben und am Leben erhalten und die solidarische Gemeinschaft somit zusammengehalten habe.
Als sich die ökonomischen Umstände jedoch verschlechtert hätten, sei es dieser Minderheit nicht gelungen, die Menschen zusammenzuhalten und friedliche Lösungen zu finden.
Aus diesen Erzählungen heraus drängt sich die Frage auf, ab welchem Punkt die solidarische Gesellschaft das einzelne Individuum eventuell überfordert.
Während Sonja von dieser Problematik berichtet, wird uns ein Konflikt für das Verhalten und Miteinander nach solidarischen Prinzipien mit dem Wohl aller unter schwierigen ökonomischen Bedingungen vor Augen geführt. Gerade diese Spannung zwischen Krisensituation und Herausforderung gesellschaftlicher Werte in einem sozialistischen Staat und der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung solidarischer Werte gerade eben zum Wiederherstellen menschenwürdiger Bedingungen scheint das Zweiten Jugoslawien, politische Bücher und auch unsere Überlegungen für eine funktionierende Organisation gleichermaßen zu beschäftigen.
Was sollte der Mensch als Teil einer solidarischen Gesellschaft in diese einbringen?
In Hinblick auf diese Fragestellung lässt sich ein Zusammenhang zwischen persönlicher und politischer Ebene ziehen. Auch in zwischenmenschlichen Beziehungen stellt sich immer wieder die Frage, wo die Grenze zwischen eigenen und gemeinsamen Bedürfnissen zu ziehen ist, ob man verzichten oder Abstriche für die Beziehung machen sollte und ab welchem Punkt dies auf eine persönliche Überforderung hinausläuft.

Idealerweise sollten Situationen – möglichst – vermieden werden, in denen eine solche Wahl getroffen werden muss, Grundbedürfnisse soweit gestillt sein, dass der Kampf um soziale Gleichberechtigung einen natürlicher und kein staatlich aufgezwungenen Prozess darstellt.

Es erscheint uns als Aufgabe der Politik und Wirtschaft (bzw. – nach Überwindung solcher Machtstrukturen – Aufgabe der Menschen), eine Umgebung zu formen, in welcher der Mensch gefordert, jedoch nicht überfordert wird, solidarisch zu denken und zu handeln und als Teil solidarischer Strukturen zu fungieren.

Unter welchen Umständen sind Menschen bereit, ein System zu verändern, in dem sie leben? Was könnte zu einem Systemumbruch in unserer Zeit führen?
Die Überzeugung, dass das System, in welchem wir leben, nicht nur verändert, sondern von einem anderen abgelöst werden muss, begleitet uns fortwährend und ist Triebkraft für unser politisches Handeln.

Unter welchen Umständen jedoch – so fragen wir uns – sind Menschen bereit, diese Überzeugung in die Tat umzusetzen, das System zu verändern?
Sonja Lokar zufolge ist für solch einen Wandel ein Krieg oder eine tiefgreifende Krise von Nöten, nach welcher es dann eine oder mehrere wegweisende Visionär*innen gibt, die eine Alternative zur Vergangenheit aufzeigen. Sonja erzählt von solch einem revolutionären Moment 2008 in Slovenien. 40.000 Menschen hätten in den Straßen demonstriert, da ihnen ihre Lebensgrundlage entzogen worden sei. Das große Scheitern zu diesem Zeitpunkt sei das Fehlen eines Menschen oder einer Partei gewesen, die eine Alternative aufzeigte. Somit sei der Moment des Umbruchs verstrichen und alte Strukturen hätten erneut gegriffen. Sie zieht die Parallele zu den Revolutionen in Ägypten und Tunesien.

Weiterhin beschreibt sie neben der Notwendigkeit einer Ideologie und einer rationalen Begründung die einer Legitimation durch die Mehrheit, um wahrhafte und nicht- diktatorische Macht auszuüben.
Die Aufgabe von Visionär*innen erläutert Sonja auch genauer: Die erwünschten, einfachen Bedürfnisse von Menschen seien immer dieselben, sie benennt das Bedürfnis nach politischer Mitbestimmung ebenso wie nach würdigen Lebensstandards.

Man habe heutzutage eine Reihe von Theorien, wie dies zu erreichen sei, keine*r würde allerdings die Massen für sich gewinnen können.
Massen für sich zu gewinnen funktioniere auf demokratische Art und Weise ebenso wie durch einen großen Krieg.

Sonja berührt durch ihre Sätze, trotzdem bleiben Fragen, die seither Menschen beschäftigt haben. Ein demokratischer und unautoritärer Wandel in einer Gesellschaft, die von propagandistischen nationalen Gedanken wie rücksichtslosen Konsumwünschen geplagt ist, scheint utopisch.

Woher ein*e Visionär*in auftauchen und eine Führung übernehmen soll, ohne die Freiheit zu Denken zu nehmen, stellt unsere Ideologie vor eine scheinbar unlösbare Frage, ganz zu schweigen von unserem Handeln.
An dieser Stelle soll auf gruppeninterne Prozesse verwiesen werden, bei denen wir durch Transparenz versuchen, Macht- und Führungsstrukturen im Kerne aufzulösen und Erfahrungsaustausch als einen horizontalen Prozess zu gestalten.

So können wir in unserer kleinen Gruppe politische Bildung- und Handlungsprozesse erproben und veri- bzw. falsifizieren.
Zurück zur anfänglichen Frage unter welchen Umständen Menschen bereit sind, ein System zu verändern, hat Sonja uns eine Reihe von Antworten gegeben:

Es gebe den Weg der Demokratie und den von äußeren innenpolitischen wie außenpolitischen Krisen, Kriegen und Notsituationen, die Menschen sich neuorganisierten lassen. Hierbei würden eine Antwort liefernde Ideologie immer Hand in Hand gehen mit einer Art führenden Person, wie sie sagt „einer Person mit Vision“, die den Massen

Handlungsmöglichkeiten nahebringe.
Weiterhin bleibt der Weg der Demokratie oft ungerichtet, während die Richtung durch eine „Visionärsperson“ Hierarchiestrukturen erzeugt, die uns widerstreben.
Um ein Bewusstsein zu schaffen, das Menschen sonst in Kriegs- und Krisensituationen erlangen, und dieses stattdessen in akut unbedrohlichen Situation wachsen zu lassen, fallen uns nur bildende und aufklärende Größen ein.
Auf der Handlungsebene politische Gruppen zu fördern, Bildungssysteme zu optimieren, mit jungen Menschen zu reflektieren, Bewusstsein zu schaffen und eigenen, freien Gedanken Raum zu geben, erscheint uns als einziger Ansatz.
Der Frage, ob die Erfahrung einer konsumorientierten Gesellschaft allein die „Sehnsucht“ nach Besitz auflösen kann, stimmt sie zu. Fehle diese Erfahrung, betrachte man Konsum als etwas sehr wichtiges und wertvolles. Nach der Erfahrung einer neoliberalen Gesellschaft lerne man, die wertvollen Dinge seien kostenlos, Zeit sei kostenlos, Freunde seien kostenlos. Diese kostenlosen Dinge allerdings seien erst erstrebenswert oder diskutabel, wenn Grundbedürfnisse gestillt seien.
Wir wenden uns an Sonja mit der Frage, wie die heutige Gesellschaft verändert werden kann. Sonja setzt an, man müsse die Welt verstehen und ohne Marx und alte Theoretiker, die uns die Welt erklären würden, fehle es uns an Menschen, die zu den Menschen sprechen würden.
„Marx ist zu alt, Marx erklärt uns die Welt im Moment nicht.“
Man müsse die Welt analysieren und untereinander Meinungen austauschen.
Sie geht auf die europäische „Flüchtlingsfrage“ ein und betrachtet diese als Propaganda der Regierung, die uns ablenken soll. „Daran wird Europa zerbrechen.“

Wie ist es möglich, in einem System, von dessen Falschheit man überzeugt ist, Politik zu betreiben?
Wenn man nicht das System verändern könne, könne man sich auf ein Thema konzentrieren und daran bis hin zu einem mehrheitlichen Konsens arbeiten: „Ich hab in der Partei und außerhalb der Partei und gegen die Partei gekämpft, um meine Ziele zu erreichen.“

So habe man für das staatliche Betreuungssystem und für Abtreibung gekämpft.
Man habe Koalitionen gebildet, einen mehrheitlichen Konsens geschaffen, der einem nicht mehr genommen werden konnte.
Es ginge nicht darum, alles auf einmal zu verändern, vielmehr müsse man den bereits stattfindenden Kampf erkennen und Politiker*innen Druck machen. „Politiker sind Hühner.“ Nachdem ihre Partei sich ihrer Vorstellung entzogen hatte und 1993 mit einer neoliberalen Partei kollaborierte, habe sie sich mit Frauenrechten beschäftigt, die ihrer Meinung nach für einen solchen Wohlfahrtsstaat unentbehrlich seien.
Die Visionen, für die man kämpfe, müsse man clever umsetzen und klug die Mehrheit von ihnen überzeugen, an den Verstand von Menschen appellieren, z.B. ob sie mehr Geld für NATO-Einsätze oder für Kinderbetreuung wollten.
Man müsse die Menschen in der richtigen Zeit mit Medien erreichen!
So stellt sie uns ihren Glauben an themenorientierte Politik vor, nichtsdestotrotz sei es nie eine Veränderung des gesamten Systems. So könne man Themen, die die Regierung Geld kosten, nahezu nie umsetzen. Man habe in Slowenien die Frauenquote eingeführt, aber eine Rente für Frauen mit Berücksichtigung ihrer Kinderzeit durchzusetzen würde Geld kosten und sei nicht umzusetzen. An diese Stelle würden Gewerkschaften treten, die 40.000 Menschen auf die Straße bringen könnten.

Wie kann ein solidarisches Gesundheitssystem organisiert sein? 

Dreh- und Angelpunkt unserer politischen Arbeit als Studierende der Humanmedizin ist die Frage nach einem solidarischen Gesundheitssystem.
Es liegt auf der Hand, dass das deutsche Gesundheitssystem, welches sich den Prinzipien der Ökonomisierung und des Neoliberalismus unterordnet, nicht unseren Vorstellungen entspricht und wir wollen den Versuch wagen, einige Ideen für ein alternatives Modell zu entwerfen.

Die Grundlage eines jeden Gesundheitssystems muss das Wohl der Menschen sein, einerseits selbstverständlich der Patient*innen, andererseits jedoch ebenso all derjenigen, die in diesem System arbeiten, Pfleger*innen, Ärzt*innen sowie alle weiteren Beteiligten. Diese grundlegende Forderung, welche banal erscheinen mag, hat ihre Selbstverständlichkeit in unserem aktuellen Gesundheitssystem verloren.
Es ist unser Ziel, ein Gesundheitssystem zu etablieren, in dem ökonomische Interessen irrelevant sind und das Krankenhaus nicht länger als moderne Fabrik fungiert, in welcher Patient*innen Ware sind und Ärzt*innen wie Pfleger*innen als Arbeiter*innen ausgebeutet werden.
Wir fordern ein anderes Abrechnungssystem, in dem nicht über Pauschalen abgerechnet wird.
Die Hierarchien im Gesundheitssystem müssen abgebaut werden, um eine engere und fairere Form der Zusammenarbeit zwischen Pfleger*innen und Ärzt*innen sowie Assistenzärzt*innen und höher gestellten Ärzt*innen zu ermöglichen.
Der Mangel an Personal durch finanzielle Einsparungen führt nicht nur zur kollektiven Überforderung von Pfleger*innen und Ärzt*innen, sondern auch zu einem Qualitätsverlust an medizinischer Versorgung, worunter besonders die Patient*innen leiden.
Jeder Mensch muss das gleiche Recht auf die gleiche Behandlung haben, unabhängig von jeglichen Umständen wie sozialer Herkunft oder finanziellem Einkommen. Gleiche Gesundheitsversorgung für alle betrachten wir als Menschenrecht. In engem Zusammenhang mit diesem Menschenrecht steht der Zugriff auf Medikamente und die Rolle der Pharmaindustrie im Allgemeinen. Der Entwicklung, dass angemessene medikamentöse Versorgung zunehmend zu einer Exklusivität wird, muss Einhalt geboten werden.

Auf der Suche nach Antworten auf unsere Frage, wie ein solidarisches Gesundheitssystem aussehen könnte, wenden wir uns an Sonja, welche uns in diesem Rahmen einiges über die gesundheitliche Versorgung im ehemaliges Jugoslawien erzählt.
Entscheidungen, die das Gesundheitssystem betrafen, seien von Versammlungen getroffen worden, die einem Parlament ähnelten. Die Delegierten der Entscheidungsgremien haben sowohl aus Vertreter*innen des Staatsapparates, die eine Übersicht über Finanzen und Themen des höheren Budgets hatten, bestanden, als auch aus aus Vertreter*innen der Krankenhäusern und Versorgungszentren der verschiedener Regionen, die eine Übersicht über den konkreten Bedarf und die gesundheitliche Entwicklung gehabt hätten.
Es galt das Prinzip der Selbstverwaltung, das wie ein parlamentäres System aufgebaut war. Das Parlament fungierte als Institution mit Repräsentation aller Gruppen, Fragen wurden gemeinsam im Parlament erörtert. Eine Vielzahl an erhobenen Studien habe dazu geführt, dass ein genaues Bild der gesundheitlichen Situation der allgemeinen Bevölkerung gezeichnet werden konnte und die Versorgung dementsprechend angepasst wurde. Es gab viele Gesundheitszentren auf lokaler Ebene, die vor allem aus Allgemeinmediziner*innen, Spezialist*innen für Tuberkulose, Pediater*innen und Gynäkolog*innen bestanden. Neben spezialisierten Krankenhäusern gab es ein nationales Krankenhaus, die Uniklinik, zur Weitergabe von Wissen. Das Gesundheitssystem wurde vor allem finanziert vom Profit der Fabriken und außerdem vom Einkommen der Arbeiter*innen finanziert – ein Verhältnis, das sich nach Ende des Sozialismus veränderte. Im neuen System seien alle Entscheidungen, die das Gesundheitssystem betrafen, von Ministerien getroffen worden, welche den Fokus zunehmend von den menschlichen Bedürfnissen hin zu ökonomischen Vorteilen verlagerten.

Als erstes wurden lokale Krankenhäuser entgegen dem Willen des Großteils der Bevölkerung abgeschafft und das hierarchische Gefälle zwischen Pfleger*innen und Ärzt*innen ausgebaut, welche neuerdings unterschiedlichen Gewerkschaften angehörten. Mittlerweile gebe es lange Wartezeiten für gewisse medizinische Versorgung und Ärzt*innen fehle es immer wieder an Geld, um bestimmte Operationen durchführen zu können.

Ärzt*innen seien im Sozialismus durchaus geachtete Mitglieder der Gesellschaft gewesen, doch mittlerweile gebe es dieser Berufsgruppe gegenüber ein großes Misstrauen.
Zu einer Beziehung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen zurückzukommen, welche auf Vertrauen und Wohlwollen beruht, erscheint uns, besonders vor dem Hintergrund unserer Rolle als Medizinstudierende, als Notwendigkeit.

Wie funktioniert Selbstverwaltung? 

Bei vielen Diskussionen wurden wir mit dem Vorwurf konfrontiert, linke Politik sei nicht wirtschaftsreal.
Wir fordern, dass wirtschaftliche Verhältnisse mit den Menschen und ihrer Würde im Einklang stehen und sie nicht in ihrer Entwicklung oder ihrer Freiheit beschränken, dass die Wirtschaftskraft eines Landes nicht ihr dienen soll, sondern im Zusammenleben jede*r auf simple Art und Weise seine Bedürfnisse erfüllen kann.

Wie bereits bei der vorherigen Frage angesprochen, haben wir auch hier in der Schulzeit ein Defizit an wirtschaftspolitischer Bildung, das wir uns allerdings nicht in Diskussionen vorwerfen lassen wollen. Damit die Diktatur des Geldes und des Marktes nicht die Freiheit, das Leben und die Arbeitskraft anderer Menschen nimmt, erscheint es uns sinnvoll, dass sie ihre eigene Arbeitskraft selbst verwalten und alle Fragen, die Arbeiter*innen betreffen, selbst auf demokratischer Ebene beantworten.

Im alten Jugoslawien beschloss man nach einem Bruch mit der zentralistisch organisierten Sowjetunion eine lang diskutierte föderative Struktur, zur Demokratisierung der Wirtschaft und Befähigung von Arbeiter*innen zur Selbstbestimmung und zur Produktion für die Allgemeinheit aus eigenem Wunsche und auch zur Verhinderung von Bürokratisierung. Die Organisation dieser sogenannten Arbeiterselbstverwaltung erfolgte über Arbeiterräte, in denen sie Direktor*innen wählten und über interne Fragen wie Löhne und Produktion entschieden.

Problematik dieses Systems war vor allem eine fehlende höhere Organisation und infolgedessen eine Fehlproduktion, die dazu führte, dass Jugoslawien Gelder von kapitalistischen Ländern annahm. Es herrschte eine Jugendarbeitslosigkeit von 70 %, da Arbeiter auch bei veränderter Nachfrage weiterhin in ihren Fabriken blieben.

Des Weiteren war durch die dezentrale Verwaltung eine Art sozialistische Marktwirtschaft entstanden, in der die einzelnen Fabriken, deren Produktion im einzelnen ein Wachstum anstrebte, miteinander in Konkurrenz traten.
Sonja berichtet, man habe in jeder Produktionseinheit danach gestrebt, mehr zu gestalten als man ausgab, um so Profit zu erreichen. Fragen, die aufgekommen waren, seien, wer den Profit erhält und wer der Besitzer der Fabrik war.

Im Endeffekt seien in den Fabriken nicht die Arbeiter*innen die Besitzer dieser gewesen – sie konnten sie nicht verkaufen, aber sie hatten das Recht, ihren Profit in Löhne, in die Entwicklung der lokalen Umgebung wie z.B. in Kindergärten, in die Armee oder in ihre eigene Fabrik zu investieren.

Ob dieses Recht umgesetzt wurde, hinterfragt sie. Der Staat schreib den Arbeiter*innen die prozentualen Anteile für Investitionen in Kultur, Armee etc. vor, sodass nur in besonders profitablen Firmen diese Entscheidungsfreiheit vorhanden war.
Als Beispiel hierfür nennt sie eine pharmazeutische Fabrik, die ihren Profit in lokale Infrastruktur mehr als vorgeschrieben investierte und darüber hinaus ihre Technologie verbesserte und auch junge Menschen zum Studium außer Lande unterstützte und so

ihren Profit weiterhin steigerte.
In der Textilindustrie sei allerdings der Profit immer weiter gesunken.
Wir fragen uns, ob das Organisationsproblem der Nachfrage über eine*n Beauftragte*n laufen sollte oder das Internet als Bereicherung zu sehen ist oder was uns helfen könnte, um Arbeiter*innen zu solidarischen aktiven Menschen zu machen, die mit ihren Fähigkeiten das Wohl aller unterstützen.
An dieser Stelle möchten wir weiter recherchieren, uns bilden und ausprobieren, soweit wir können.

Wie kann sich ein solidarisches Zusammenleben gestalten, wenn Individuen das eigene Wohl und den eigenen Besitz der Solidarität überordnen?

Wir kommen weiterhin durch das Gespräch auf prinzipielle Fragestellungen, die sich uns auch bei unserer politischen und persönlichen Identitätsbildung aufdrängen.

Viel diskutieren wir diese Tage über ebendieses Thema, wie wir mit wie im Geschichtsunterricht behandelten „Andersdenkenden im sozialistischen System“ umgehen.
Wir fragen uns nach der Legitimation von Meinungen und Weltanschauungen, dem Recht auf Besitz, der Notwendigkeit von Grundwerten und einer Moral, die uns begründen soll, warum man anderen Menschen kein Leid antun darf, warum das Wohl aller als höchstes Prinzip anzusehen als notwendig erscheint. Somit führen wir zahlreiche auch philosophische und sogar erkenntnistheoretische Debatten, oft eifrig auf langen Autofahrten, im Hostel und immer wieder auf Spaziergängen. Der Austausch von Gedanken in einer Gruppe von ähnlich strebenden Menschen bedarf zwar der Grundregeln einer Diskussion, allerdings stellt sich in einer viel geringeren Dimension die Frage nach dem „Ausschluss“ „Andersdenkender“.

Eins der zentralsten und gespaltenen Debatten ist die über die Legitimität von Meinungen. Mit einer moralischen Unterlegung ist es uns nahezu gedanklich und vernünftig unmöglich, den Gedanken von sozialer Gerechtigkeit mit dem von Besitz und Konkurrenz gleichzusetzen.

Wir balancieren stetig zwischen der Angst, unsere Meinung zu wichtig und ideologisch zu nehmen und der, die eigenen Werte zu „verraten“, gerade die, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit stellen. Was bedeutet schon eine Moral, die sich von Situation zu Situation verändert und nicht ideologisch ist? Wie kann ich ein Recht wie Menschenwürde als veränderbaren Wert interpretieren? Gerade die Moral ist es doch, die einen objektiven Anspruch erhebt, damit auf sie immer zu berufen ist!

Gleichzeitig kommen wir in der philosophischen Debatte an den Punkt, die Grundlage der Moral sei irgendwann nicht mehr rationalisierbar.
Wir zeichnen zwei Ebenen der Argumentation auf, die der Zweckmäßigkeit einer Gesellschaft, in der Menschenwürde und -gleichheit herrscht, und die des Glaubens. Darüber hinaus können wir als überzeugte Verfechter*innen von Gleichheit keinen Grund liefern für eine*n nach objektiver unspiritueller Wahrheit suchende*n Fragende*n oder Kritiker*innen.

Diese fehlende Grundlage der gesamten Argumentation gibt uns manchmal das Gefühl von Nihilismus und Ziellosigkeit.
Nichtsdestotrotz haben wir den Antrieb und das klare Ziel, die Parameter herauszufinden, von denen ein solidarisches Zusammenleben abhängt.

Sonja liefert uns auf die Frage Antworten durch ihr Erleben in ihrer früheren politischen Realität. Sie beschreibt, dass die Grenzen offen gewesen seien, man habe das Land verlassen und in Deutschland als Gastarbeiter ein neues Leben beginnen können. Dies sei ein Weg gewesen, innenpolitischen Konflikten ein Ventil zu verschaffen.

Auch ihre Aussage, man müsse für Solidaritätswillen ohne Krieg und Krisen den Nachteil eines konsumorientierten Systems durchlebt haben, führt zum Schluss, es müssen

verschiedene Systeme nebeneinander existieren, damit die persönliche Freiheit und Freiwilligkeit innerhalb des Systems bestehen bleiben.
Das ist eine Antwort, die vorerst als Resignation interpretierbar ist. Sie kann beinhaltet, dass Menschen von älteren Generationen ihre Erfahrungen nicht an jüngere weitergeben können, sie Erfahrungen stets selbst machen müssen und immer wieder auf’s Neue selbst begreifen müssen, warum sie wie leben möchten.

Wir wollen die Möglichkeit der Erfahrungsweitergabe nicht ausschließen, erproben immer wieder, einerseits politische Erfahrungen in der Gruppe auszutauschen und sehen Erfolge durch eine vertrauens- und respektvolle Umgangskultur, in der jede Erfahrung ihren Wert hat.

Andererseits versuchen wir, Erfahrungen auf kleiner Ebene zu machen und aus ihnen zu lernen, in dem wir aktiv Projekte gestalten und Konstellationen und Modelle im kleinen Rahmen der Gruppe erproben.
Darüber hinaus scheint es uns oft möglich, über Themen einen Konsens zu finden, um in unserer Arbeit weiterzukommen, ohne dass jemand „die Gruppe“ oder im übertragenen Gedanken das System verlassen müsste.

Wir treten an das klassischste Problem menschlichen Zusammenlebens heran:
Zwar ist die am häufigsten genannte und anerkannte Moral, die Freiheit anderer Menschen nicht den eigenen Wünschen unterordnen zu dürfen, allerdings ist es unmöglich, innerhalb einer kollektiven Lebensgemeinschaft Entscheidungen zu fällen, ohne die absolute Entscheidungsfreiheit einzuschränken.

Wir kommen ebenso – um von der großen allgemeingesellschaftlichen Ebene auf gruppeninterner Ebene zu denken – zu der Frage, wie groß unsere Gruppe sein kann, wie viele Menschen eine Gruppe tragen kann, um ebenjenen Konsens herstellen zu können. Wohl kaum haben wir den Anspruch, auf alle Fragen nach Jahrmillionen sich entwickelnder Menschheitsgeschichte die klärenden, objektiven Antworten zu finden. Vielmehr liegt uns am Erproben, an subjektiven momentanen Wahrheiten. An dem, den Entwicklungsprozess aktiv gestalten zu können und geistige Infrastrukturen aufzubauen, in denen das Fragenstellen, das wohl viel relevanter ist als das Antwortenfinden, möglich ist.

Das Gespräch mit Sonja hat uns einige Fragen beantwortet, einige neue Fragen uns stellen lassen und einige ungeklärt gelassen. Ihre charismatische Person und ihr Auftreten in Kombination mit ihrer Stärke und ihrer Lebensweisheit, ihr Lebensmut und ihre politische Arbeit inspirierte uns auf so vielen Ebenen, dass sie kaum zu nennen sind.
Wir sind unglaublich dankbar für den Austausch mit ihr und schätzen ihre herzliche Art, uns an ihren Gedanken und ihren Erfahrungen zu begegnen und uns teilhaben zu lassen, unermesslich.
Für uns als Gruppe wurden viele Themen bearbeitet, die nicht nur in Bezug auf zu bearbeitende Projekte als auch in Bezug auf interne Gruppenstrukturen und -fragen Relevanz beanspruchen.

1 Nach F. A. Brockhaus GmbH, Leipzig 2001, Band 20